Was bringen die Corona-Maßnahmen?

Seit dem 22. März gilt in Deutschland ein „umfassendes Kontaktverbot“, das unserer Wirtschaft und Gesellschaft hohe Opfer abverlangt. Was hat das bisher gebracht?

Ich folge inzwischen der deutschen Presse und verwende auch die Daten der John Hopkins Universität. Etwas unscheinbar befindet sich unter der „Corona Map“ ein Link auf Github, von wo sich csv-Dateien für die bestätigten und die Todesfälle sowie die Anzahl der Genesenen herunterladen lassen. Aus diesen Zahlen berechnen wir auch die Zahl der „Aktiven“, also den Krankenstand.  

Abschätzung des zu erwartenden Krankenstandes

In logarithmischer Auftragung erkennt man eine deutliche Abschwächung der Wachstumsrate für die bestätigten („confirmed“) Fälle. Zumindest genauso wichtig ist die damit einhergehende geringere Wachstumsrate (aber weiterhin steigende Anzahl) der Kranken, die auf ein gut funktionierendes und nicht überlastetes Gesundheitswesen angewiesen sind. Am 6. April sind das mehr als 72000 Menschen. Die Entwicklung der letzten Tage tragen wir logarithmisch auf:

Das zu erwartende Wachstum des Krankenstandes über die nächsten Tage lässt sich mit dieser Regressionsanalyse abschätzen. In logarithmischer Auftragung ergibt sich wie gezeigt eine Gerade mit der Steigung 0,04709. Wir erwarten also eine Verdopplung alle 14 Tage – bei aktuellem Maßnahmenkatalog. Über das lila gezeigte Vorhersageintervall erkennen wir, dass auf Grundlage dieser auf sieben Tagen basierenden Analyse eine Vorhersage für 14 Tage mit einer erheblichen Unsicherheit behaftet ist – sowohl nach oben als auch nach unten. Da aber auch die Einführung der Maßnahmen erst 15 Tage zurückliegt, können wir vermutlich nicht von einem „stabilen System“ ausgehen. Auch deshalb werden die aktuellen Zahlen in Nachrichten und Zeitungen stets neu bewertet.

Es liegen, wenn auch nicht mir, inzwischen genügend Zahlen vor, um aus der Anzahl der „Aktiven“ abschätzen zu können, wie viele Menschen eine Intensivbehandlung benötigen. Diese Zahl lässt sich wiederum mit der verfügbaren Kapazität an Bettenplätzen, Beatmungsgeräte, usw. vergleichen. So ließe sich überlegen, inwiefern Lockerungen der Maßnahmen riskiert werden können.

Hervorgehoben werden muss, dass es sich hier um eine grobe ABSCHÄTZUNG – und zwar hoffentlich nach oben – der zu erwartenden Belastung des Gesundheitssystems handelt: modellieren sollte man besser die Ausbreitung des Corona-Virus. Über Daten von Einzelfällen mit den Zeitpunkten für Diagnose und Ausgang der jeweiligen Erkrankung, Zahlen, die verständlicherweise nicht veröffentlicht werden, lässt sich eine mittlere Krankenzeit und deren Streuung berechnen. So könnte der zu erwartende Krankenstand besser abgeschätzt werden. Wir haben diese Möglichkeit hier nicht und modellieren deshalb den Krankenstand direkt.

Was hat die „soziale Distanzierung“ gebracht?

Schauen wir uns dafür die Zahlen der Ausbreitung genauer an und hier zunächst den Anstieg zu Beginn der Epidemie in Deutschland. Über eine Analyse der Residuen (s.u.) wählen wir den Zeitraum vom 25. Februar bis zum 19. März aus. Praktisch gesprochen: während dieser Zeit konnte sich das Virus nahezu ungebremst ausbreiten und wir wollen die Geschwindigkeit bestimmen.

Die Steigung der Kurve beträgt 0,2866 – was einer Verdopplung der Fälle alle 2,4 Tage entspricht – eine Rate, die wir auch bei vielen anderen Ländern zu Beginn der Epidemie antreffen. An den Vorhersageintervallen erkennt man zudem, dass einige Punkte „verdächtig weit“ von der braun-rot dargestellten Ausgleichsgeraden entfernt liegen. Wir schauen uns den zeitlichen Verlauf dieser „Residuen“, also der Abstände von der Ausgleichsgeraden, mit einer Regelkarte genauer an:

Die „Western Electric Regeln“ oder auch „Nelson Regeln“ im medizinischen Bereich, schlagen tatsächlich Alarm und wir haben zunächst einen signifikanten Anstieg – und zwar um sechs Standardabweichungen. Genaueres führt hier zu weit, lässt sich jedoch über eine Internetrecherche nachschlagen. Wichtig ist: in den Daten steckt noch ein Signal, das in dem obigen Regressionsmodell nicht erfasst wurde, und die Ergebnisse sind deshalb mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten.

Eine Verdopplung der insgesamt bestätigten Fälle (also nicht der täglich neuen Fälle) alle 2,4 Tage ist und bleibt allerdings dramatisch und ließ sich – in logarithmischer Auftragung – schon sehr früh erkennen. Wir haben darüber geschrieben.

Dank der inzwischen eingeleiteten Maßnahmen hat sich die Lage seither sehr zum Besseren gewendet. Aus der Steigung von 0,07132 erhalten wir eine Verdopplung alle 9,7 Tage – was immer noch schlimm genug ist:

Schauen wir uns auch hier die Residuen an:

Wenn man optimistisch ist, dann sinkt ab dem 3. April die Wachstumsrate noch weiter. Aus diesen vier Punkten erhalten wir eine Verdopplungszeit von 16,5 Tagen – bei sehr breiten Vorhersageintervallen. Es gilt also, diese Zahlen täglich zu verfolgen: sind wir eher mit einer Verdopplung alle 10 oder alle 16 Tage unterwegs? Und was bedeutet das für die Aus- und Überlastung unseres Gesundheitssystems?

Wir kommen also von einer Verdopplung alle 2,4 Tage und haben es dank der eingeleiteten Maßnahmen geschafft, die Ausbreitungsgeschwindigkeit auf eine Verdopplungszeit von bis zu 9 oder sogar mehr Tagen zu bremsen.

Können die Maßnahmen inzwischen gelockert werden?

Das ist die Frage aller Fragen, auf die es keine statistische Antwort gibt. Untersuchungen wie diese hier können leider nur helfen, die Wirkung im Nachhinein zu bewerten. Eine Aufrechterhaltung der bestehenden Einschränkungen oder eine sehr vorsichtige Lockerung muss auf jeden Fall gut kommuniziert werden. Die rapide Ausbreitung von Corona war schon früh erkennbar – die notwendigen Maßnahmen in Deutschland aber offensichtlich damals noch nicht vermittelbar. Um so massive Änderungen des öffentlichen Lebens einzuleiten, bedurfte es eines geteilten Verständnisses der Dringlichkeit – und ganz offensichtlich hat Mathematik alleine dafür nicht gereicht. Gleiches gilt für eine Aufrechterhaltung oder nur zögerliche Lockerung der aktuellen Situation.

Schauen wir uns die Zahlen von Singapur an, um zu verstehen, wie es weitergehen könnte.

Zwischen dem 22. Januar und dem 2. Februar steigen hier die bestätigten Fälle mit einer Verdopplungszeit von 2,7 Tagen an. Ab dem 15. Februar (hervorgehoben) flacht die Kurve dank der eingeleiteten Maßnahmen ab und bleibt bis zum 5. März bei einer Verdopplungszeit von 30 Tagen, die sich danach aber relativ stabil auf 8,4 Tage verkürzt.

Hat Singapur vor dem 5. März gewisse Maßnahmen gelockert? „Steuert“ der Stadtstaat seine Reglementierungen anhand von solchen Analysen? Richten sie sich dabei aus an der Kapazität des Gesundheitssystems, sodass also alle Notfälle auch entsprechend behandelt werden können? Ich weiß es nicht. Ein Anruf in Singapur könnte aber auch hierzulande für interessante Einsichten sorgen, wenn es darum geht, in wie weit und wann die derzeitigen Einschränkungen gelockert werden können.