Corona Datenanalyse: sind wir nicht alle belogen worden?

Heute möchte ich auf einige Fragen eingehen.

Schauen sich „die Politiker“ überhaupt die Zahlen an?

Selbstverständlich tun sie das. Gestern war ein Interview mit Herrn Tobias Hans, Ministerpräsident des Saarlandes, im Fernsehen. Er hat mit Zahlen argumentiert und auch Erwartungen für die nächsten Tage genannt, die eindeutig auf einem exponentiellen Wachstumsmodell basieren. Mit diesen Zahlen hat Herr Hans nicht zuletzt die drastischen Maßnahmen erklärt, die im Saarland und andernorts dieser Tage ergriffen werden, um die Ausbreitung des Corona-Virus zu verlangsamen. Den entsprechenden Beitrag finde ich leider nicht in den Mediatheken der Rundfunkanstalten und bin für Hinweise dankbar.

Frau Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, betont gleichzeitig: „Wir alle, die wir keine Experten sind, haben das Virus unterschätzt„. Nicht nur die Politik, auch die Gesellschaft muss derzeit eine sehr steile Lernkurve hinlegen.

Warum veröffentlicht sonst keiner solche Statistiken?

Das ist nicht richtig. Es gibt sehr viele statistische Untersuchungen, die weit über das herausgehen, was auf diesem Blog diskutiert wird. Und es gab diese Untersuchungen auch schon sehr viel früher.

Zunächst einmal haben in Zeiten von „Big Data“ zumindest größere Zeitungen selbstverständlich Statistiker und Statistikerinnen und „Datenjournalismus“ ist eine eigen Disziplin geworden.

Ein Beispiel dazu sei hier genannt zu einer der wichtigen Fragen derzeit: können wir überhaupt den offiziellen Zahlen trauen? Denn COVID-19 erreicht auch Länder, die entweder nicht in der Lage oder nicht willens sind, diese Zahlen systematisch zu erheben beziehungsweise zu veröffentlichen.

Im Economist vom 7. März wird in der Rubrik „Graphic Detail“ eine (leider nicht frei zugängliche) Studie veröffentlicht, die auf Grundlage von Tourismus-Zahlen untersucht, welche Länder das Problem entweder unterberichten oder unterschätzen. Es besteht zu hoffen, dass Vertreter dieser Länder die Studie lesen und ernst nehmen.

Wenn Frau von der Leyen sagt, wir wären alle keine Experten, dann liegt das auch daran, dass Politik und Gesellschaft – und ich glaube in der Reihenfolge – erst nach und nach verstanden haben, welche Experten jetzt gefragt sind. Inzwischen ist klar, dass Statistiker auf jeden Fall mit an Bord sein müssen. Statistik ist übrigens auch ein wichtiges Fach der Virologie.

Genannt sei hier ebenfalls eine Studie aus Harvard, die schon am 4. Februar (!) die Ausbreitung von Corona mit internationaler Reisetätigkeit in Verbindung gebracht hat. Die Figur 1 des Artikels ist auf diesem nicht-kommerziellen Blog dargestellt und kann auf Wunsch der Eigentümer dieses intellektuellen Eigentums oder deren Rechtsvertreter entfernt werden. Für deren entsprechenden Hinweis bin ich dankbar.

De Salazar PM, Niehus R, Taylor A, Buckee C, Lipsitch M, „Using predicted imports of 2019-nCoV cases to determine locations that may not be identifying all
imported cases“, https://doi.org/10.1101/2020.02.04.20020495.

Lektion 4: Lernen Sie, Statistiken zu lesen und bringen Sie auch Kindern und Jugendlichen diese Fähigkeiten bei. Statistik ist nicht „für die Uni“ sondern Bestandteil aufgeklärten Staatsbürgertums. 

Eine neue Art, Statistik zu vermitteln, ist freilich überfällig.

Warum hat man all diese Maßnahmen nicht schon viel früher ergriffen?

Diese Frage ist wichtig – und geht über diesen Blog hinaus. An einer Antwort möchte ich mich dennoch versuchen. Wir erleben Zeiten außergewöhnlicher Veränderung und außergewöhnlich schneller Veränderung. Von einigen Ländern ausgesprochene Reisebeschränkungen für chinesische Staatsbürger haben vor wenigen Wochen noch für Empörung gesorgt, ebenso die am 12. März von den USA gegen Reisende aus der EU verhängten Maßnahmen. Inzwischen haben wir uns damit abgefunden, in Deutschland in einem Risikogebiet zu leben, von dem andere Länder sich abzuschotten versuchen.

Diese und andere notwendigen Maßnahmen greifen tief in Freiheiten ein, die wir hier und heute vielleicht für selbstverständlich empfinden, für die Menschen früherer Generationen aber ein Leben lang gekämpft haben und die auch heute noch keineswegs selbstverständlich sind, so wie die Reise- und die Versammlungsfreiheit. Die zu erwartenden Opfer sind also auch mit Blick auf bürgerliche Freiheiten erheblich.

Veränderung und Einschränkungen müssen kommunizierbar sein und sie setzen ein geteiltes Verständnis der Dringlichkeit voraus, sonst funktioniert deren Umsetzung nicht. Es besteht deshalb zu hoffen, dass dieses Verständnis zumindest jetzt von allen geteilt und in verantwortliches Handeln übersetzt wird.