Ich hoffe, ich darf in diesem nüchtern gehaltenen Blog die Botschaft heute einmal dramatisieren: Ich bin Hobbyastronom. Gestern habe ich durch’s Fernrohr geschaut. Und einen Kometen gesehen, der auf die Erde zurast…
Es geht natürlich nicht um einen Kometen, sondern um den Panamakanal.
Meine Schlussfolgerungen basieren auf Szenarien, für die ich historische Daten heranziehe: ich verwende die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte, um den derzeitigen (noch nicht kritischen, aber außergewöhnlich niedrigen) Wasserstand des Panamakanals in die Zukunft zu extrapolieren. Denn bis zum Ende des Jahres, also jetzt, muss der Gatúnsee gut gefüllt sein, damit der Panamakanal im nun folgenden Jahr sicher betrieben werden kann.
Die unten entwickelten Szenarien zeigen, dass wir im nächsten Jahr mit einer längeren Periode geringer Kapazität im Panamakanal rechnen müssen – und deshalb mit erheblichen Beeinträchtigungen weltweiter Lieferketten.
Bei der Supply Chain & Logistics Konferenz Anfang Dezember in Berlin kam über einem Kaffee das Thema auf, dass nicht nur der Suezkanal und die Straße von Hormuz für unvorhergesehene Störungen globaler Lieferketten sorgen können, sondern zunehmend auch der Panamakanal.
Der Panamakanal ist ein entscheidendes Element in der weltweiten Lieferketteninfrastruktur. Er dient als maritime Abkürzung, die einen effizienten und kostengünstigen Transport von Gütern zwischen Atlantik und Pazifik ermöglicht. Im Vergleich zur Umrundung von Kap Hoorn, und erst recht im Vergleich zum Weg durch die Nordwest-Passage, werden Reisedistanzen und -gefahren für Schiffe dank dieses Kanals erheblich verkürzt.
Schon dieses Jahr hat es an ungewöhnlich vielen Tagen im Panamakanal „bedenklich niedrige Wasserstände“ gegeben. Das führte jeweils dazu, dass große Schiffe („Panamax„) nicht mehr vollbeladen durch den Kanal fahren konnten. Auch sinkt die Kapazität des Kanals bei Niedrigstand, da dann zu wenig Wasser für einen häufigeren Schleusenbetrieb zur Verfügung steht.
Diese Dinge wollen wir uns heute genauer anschauen. Eine kurze Internetrecherche zeigt, dass es für den Betrieb des Kanals auf den Wasserstand des künstlich aufgestauten Gatúnsees ankommt. Bei einem Wasserstand von weniger als 79 Fuß wird es kritisch. Historische Daten dafür – leider aber nicht für die abgefertigte Tonnage oder die Anzahl der geschleusten Schiffe – werden dankenswerterweise von den Kanalbehörden bereitgestellt.
Datenbeschaffung und -aufbereitung
Wie sonst auch verwende ich ein R-Skript, was nicht zuletzt den Vorteil hat, dass ich meine Analyse bequem aktuell halten und in eine App einbauen kann: bei diesem Link auf den Reiter „Panama Canal“ klicken, um den aktuellen Stand im Jahr 2024 im Vergleich zu vorhergehenden Jahren zu sehen.
Die Daten enthalten zwei Spalten: das Datum und den Wasserstand in Fuß. Ich filtere einige Zeilen heraus, in denen ein unrealistischer Wasserstand von Null vermerkt ist, und erkenne, dass es für das Jahr 2002 lediglich zwei Einträge gibt. Sehr viel später fällt mir zudem auf, dass ausgerechnet zwischen den Jahren einige Werte „Ausreißer“ darstellen – vermutlich keine „echten“ Schwankungen des Wasserstandes, sondern Probleme in der Datenerfassung oder -übertragung.
Für die weitere Handhabung berechne ich aus der Datumsspalte weitere Spalten für das Jahr (1965 bis 2023), den Monat (1, 2, … 12) und den Tag des jeweiligen Jahres (1, 2, … 365). Da im Jahresverlauf Schwankungen auftreten (siehe unten), berechne ich für jeden Monat und für jeden Tag im Jahr einen Mittelwert. Puristen mögen einwenden, dass ich besser den Median verwenden sollte, denn die Daten sind nicht normalverteilt, wie auch die folgende Graphik schon zeigt:
Verlauf des Wasserstandes über das Jahr und über alle Jahre hinweg
Wie die vorherige Graphik zeigt, sind die mittleren Wasserstände in den Monaten April bis August am niedrigsten. Kritische Niedrigstände wurden bisher lediglich im April und Mai erreicht. Die Wasserstände streuen zudem stark – mit Ausreißern nach unten. Auf Tagesbasis stellt sich die Situation wie folgt dar:
Wir schauen uns den zeitlichen Verlauf über alle Jahre hinweg genauer an:
So erkennen wir, dass die jahreszeitlichen Schwankungen Mitte der 1970er Jahr mehrere Jahre nacheinander besonders stark nach unten ausgeschlagen haben. Im April 1998 gab es die ersten 12 Tage mit einem kritischen Wasserstand von weniger als 79 Fuß und zwei weitere Tage im Mai. Im Jahr 2016 traten 41 solcher Tage auf. Überhaupt scheinen sich niedrige Wasserstände in den letzten Jahren gehäuft zu haben – erkennbar an den häufiger gewordenen Ausreißern nach unten. Auch die Varianz des Wasserstandes (optisch der Abstand von Höchst- zu Tiefstwerten innerhalb eines Zeitraumes) scheint seit ca. 2015 deutlich angestiegen zu sein.
Ich habe längere Zeit herumprobiert und bin immer noch nicht so ganz schlüssig, denke aber, dass die folgende Graphik die Dramatik der Entwicklung ganz gut wiedergibt:
Hier stelle ich den vorher schon gezeigten Verlauf dar, allerdings nun den Ausschnitt seit den 1990er Jahren. Zusätzlich färbe die Punkte umso röter ein, je weiter der Wasserstand von seinem langjährigen Tagesmittel abweicht. Diese Mittelwerte – berechnet auf Grundlage aller Daten – zeige ich im Hintergrund grau. So werden die starken Abweichungen des Wasserstandes nach unten während der letzten Jahre deutlich sichtbar.
Auch jetzt, gegen Ende des Jahres 2023 (hellrot, ganz rechts in der Graphik), zu Zeiten seines Höchststandes, hat der See einen historischen Tiefstand für die Jahreszeit erreicht – deutlich unter den Tiefstständen sogar, die sonst in den Monaten April bis Juni erreicht werden.
Auf Grundlage der historischen Entwicklung erwarten wir also, dass es nun von den aktuell erreichten 81,6 Fuß wieder „bergab“ (!) geht. Somit besteht die Erwartung und Befürchtung, dass die Marke von 79 Fuß bald erreicht sein könnte.
Wie geht es weiter?
Um das genauer zu betrachten, schauen wir uns die Jahresverläufe an:
Der diesjährige Verlauf (rot) liegt weit außerhalb der zu dieser Jahreszeit jemals aufgetretenen Wasserstände.
Nun ist die spannende Frage, wie es wohl weitergehen könnte. Dafür stelle ich folgende Überlegung an: Ich verschiebe alle Verläufe der vergangenen Jahre auf den Startpunkt in diesem Jahr und schaue, wohin das führt. Dabei gab es noch eine Schwierigkeit: zwischen den Jahren zeigen die Wasserstände für einige Jahre (1997, 2015, 2019, 1982, 2008, 2013, 1971, 1998, 2016, 2020, 1983, 1977, 2014) einen erstaunlichen Sprung. Ein Messfehler? Ich verschiebe deshalb die Normalisierung auf einen früheren Termin, den 10. Dezember 2023 (der rote Punkt in der folgenden Graphik) und lasse die vergangenen Entwicklungen durch eine Verschiebung des Wasserniveaus dort starten:
Wir erkennen wir die ganze Dramatik dessen, was für 2024 droht: wenn sich der Wasserstand entwickelt wie in der Vergangenheit – und jede der gezeigten Kurven ist eine aus der Vergangenheit – dann führen manche Szenarien zu einem dramatischen und nie dagewesenen Niedrigwasser im Panamakanal – von dem sich dieser auch im gesamten nun folgenden Jahr nicht erholen würde.
Diese Szenarien lassen auch eine Wahrscheinlichkeitsbetrachtung zu: wir bestimmen dafür Tag für Tag den Anteil der Szenarien mit Niedrigwasser, also einem Stand von weniger als 79 Fuß. Das Ergebnis ist beunruhigend:
Spätestens ab dem März 2024 steigt die Wahrscheinlichkeit für Niedrigstand rasant an und erreicht Anfang Mai fast die 80-Prozent-Marke. Bis Ende Oktober liegt die Wahrscheinlichkeit für Niedrigwasser noch bei 10%: kein beruhigender Ausblick für das nun kommende Jahr!
Sind wir vorbereitet?
Dies ist „nur“ ein Blog, in dem ich öffentlich verfügbare Daten verwende und interpretiere. Ich glaube, dass das wichtig ist. Hier aber stellt sich die Frage: wie bewusst ist Stakeholdern und Entscheidern die Situation? Werden ausreichend Maßnahmen eingeleitet für dieses „Tagebuch einer angekündigten Krise“? Oder müssen wir uns für 2024 auf Engpässe in den weltweiten Lieferketten einstellen?
Anmerkung: auf Grundlage von Rückmeldungen habe ich diesen Artikel stark überarbeitet und in englischer Sprache auch auf LinkedIn veröffentlicht.