Probleme lösen mit Six Sigma

Six Sigma ist ein wenig aus der Mode gekommen. Zu viel Statistik und zu wenig Praxisbezug. Außerdem geht Lean schneller…  Aber selbst das Handwerk bei Six Sigma sollten wir sehr hoch schätzen. Denn es ist oft der einzige Weg, Probleme zu lösen. Ich glaube deshalb, dass das Pendel irgendwann wieder zurückschlagen wird: Unternehmen werden Six Sigma „wiederentdecken“. Das folgende Beispiel zeigt warum. Den Kontext habe ich angepasst, um Rückschlüsse auf Unternehmen und gelöstes Problem auszuschließen.

Es gilt, einen galvanischen Abscheidungsprozess zu kontrollieren. Platten werden in einem Tauchbad mit einer Schutzschicht versehen. Die soll eine Dicke von 1300 Mikrometern haben, plus-minus 10 Mikrometer. Leider haut das nur in etwa der Hälfte der Fälle hin. Wir haben also einen „Null-Sigma“- und keinesfalls einen“ Six-Sigma“-Prozess vor uns!

Ein guter Six Sigma Black Belt kann Ihnen aus diesen historischen Daten  Maßnahmen ableiten, die eine Six-Sigma-Prozessfähigkeit durchaus denkbar machen (er oder sie wird nach einer soliden Methode vorgehen, sodass kein „Schnellschuss in den Ofen“ daraus wird).

Wie diese Maßnahmen aussehen, mögen Experten in Ihrem Unternehmen herausfinden. Auf jeden Fall sind Sie sehr daran interessiert: Denn wenn Sie vorher etwa die Hälfte der galvanisch beschichteten Platten auf dem grauen Markt „versenken“ mussten, weil die Schichtdicke nicht stimmte, dann müssen Sie das nach diesem Projekt rein rechnerisch nur noch mit 3 oder 4 Platten von einer Million tun. Es geht also um sehr viel Geld…

Übrigens: dieses Problem mag man Ihnen bei unseren Einstellungsgesprächen vorlegen. Denn unsere Leute sollten auf Anhieb solche „rein handwerklichen“ Probleme lösen können…

Unser Problem: wir haben keine Brücke über den Fluss

Wir verkaufen Bananen auf der anderen Seite des Flusses. Hier bei uns wachsen sie, aber die Absatzmärkte sind nun einmal dort drüben. Und jeden Morgen dasselbe: Bananen pflücken, in Kisten laden, die dann auf den Esel und los. Die Uferböschung runter, das macht der Esel nicht mit, da muss der Fährmann mit anpacken, falls er schon wach ist. Genauso kommen wir auf der anderen Seite wieder rauf. Hoffentlich steht dort auch schon unser Freund mit seinem Esel, der die Kisten dann zum Markt bringt. Jeden Tag der gleiche Ärger.  

Klar: uns fehlt eine Brücke!

„Stopp“ sagen Sie jetzt, „ wozu die Brücke?“ –  „Oh, wir sollten spätestens um sieben Uhr auf dem Markt sein. Ab acht Uhr fallen die Preise massiv. Wir brauchen etwa eine Stunde, um die Bananen loszuwerden“.  –  „Wann kommt ihr denn derzeit an?“, fragen Sie.

Jetzt müssen Sie sich anhören, wer wie unpünktlich ist, dass die Esel störrisch sind, die Böschung bei Regen glitschig oder der Fluss zu reißend wird –  und so weiter. – „Ja, um wie viel kommt ihr denn zu spät?“, wiederholen Sie Ihre Frage. Wir haben keine Aufzeichnungen. Finden wir auch unwichtig, denn das Problem ist doch klar: wir kommen zu spät und das zu oft. Es geht darum, etwas dagegen zu tun!

Stellen Sie sich nun vor, es gelänge Ihnen, uns davon zu überzeugen, über eine gewisse Zeit Daten zu sammeln. Das ist nicht leicht, denn so etwas bedeutet Mehraufwand. Sie wollen unsere Ankunftszeiten. Und die Erlöse, die wir jeweils für eine gegebene Anzahl Bananen zu unterschiedlichen Uhrzeiten haben realisieren können. Aus den so gewonnen Rodaten ergibt sich folgendes Bild:

Graphische Ausbereitung der verfügbaren Rohdaten

X: Uhrzeit. Y1: Ankunftszeiten. Y2: realisierte Stückpreise.

Tatsächlich kommen wir gelegentlich erst an, wenn die Preise schon fallen. Qualitativ ist das nicht neu. Aber Sie leiten aus der quantitativen Beschreibung unserer Ankünfte und des Preisverfalls nun ab, dass wir etwa ein Drittel unseres möglichen Umsatzes verlieren. Pro Tag sind das $25. Für uns ist das viel.

Ist die Brücke weiterhin die beste oder gar einzige Lösung?

Falls Sie gelegentlich Problemlösungen in Auftrag geben: diese Art der Problembeschreibung ist IHRE Verantwortung! Sie vergeuden sonst wertvolle Zeit und Ressourcen. Und an alle Spezialisten: unsere Problembeschreibung hier ist noch unvollständig. Der Lösungsraum spannt sich deshalb nicht so klar auf, wie Sie es gewohnt sind.

„Denken Sie lösungsorientiert!“

Letzte Woche, selbiges Seminar. Da war es wieder:  „Sehen Sie nicht überall Probleme – denken Sie lösungsorientiert!“ – Das klingt gut und richtig. Aber wir lassen uns damit so manche Chance durch die Lappen gehen.

Menschen können ihr Problem oft gut beschreiben – und zwar als Abwesenheit einer Lösung. „Das Problem ist, dass wir kein SAP haben“. Oder  „wir brauchen mehr Hände, um diese Arbeit zu bewältigen“ und „wir müssen den Grad der Automatisierung erhöhen.“  So sehen lösungsorientierte Problembeschreibungen aus. 

Aber dann dauert die SAP-Einführung zu lange, es ist gerade einmal wieder Einstellungsstopp und bei der automatischen Sortiermaschine macht der Betriebsrat nicht mit. Wir lernen also, mit dem Problem zu leben.  So wird es ja auch zur „Herausforderung“, die es zu meistern gilt. Da war ja bei all den anderen Problemen vorher auch schon so.

Verstanden. Aber wie denkt man eigentlich problemorientiert?

Wir haben keine Probleme – höchstens Herausforderungen!

Nach einem eintägigen Management-Workshop kam letzte Woche ein Teilnehmer zu mir: „Sie wissen ja schon, dass Sie unser bisheriges Vorgehen auf den Kopf stellen, oder?“ – „Warum das denn?“ – „Mir hat man über Jahrzehnte beigebracht, dass es keine Probleme gibt, höchstens Herausforderungen. Und jetzt erzählen Sie uns von Problemdefinition, Problembeschreibung, Problemlösungsansätzen und so weiter“.

Wenn es wirklich so ist, dass Unternehmen nicht „problemorientiert“ sondern „lösungsorientiert“ denken und wenn Führungskräfte und Mitarbeiter Probleme als „Herausforderungen“ bezeichnen und damit letztlich kleinreden, dann tun sich hier vermutlich gewaltige Möglichkeiten auf.

Gehen nicht zuletzt große Erfindungen darauf zurück, dass Menschen Probleme erkennen, wo andere nicht einmal Herausforderungen und meist nur „Alltag“ sehen? Bis gegen Ende der 1990er Jahre haben wir das Internet wie ein Telefonbuch genutzt: tippe eFlowers.com in den Browser und bestelle Blumen.  Ich kann mich noch an Post-it Zettel mit Web-Adressen am Bildschirm erinnern.  Das war kein Problem, im Gegenteil: es war sehr praktisch, oder? Und hat vor der Erfindung des Rades dieses irgendjemandem überhaupt gefehlt? – Kein Problem also.

Wenn es so ist, dann müssen wir die Dinge tatsächlich auf den Kopf stellen: anstatt „Herausforderungen“ zu sehen, wo Probleme sind, sollten wir lernen, Probleme zu erkennen. Und zwar erst recht dann, wenn die Konkurrenz nur „Status Quo“ und „Alltag“ wahrnimmt!

Albert Einstein soll einmal gesagt haben: „wenn ich eine Stunde Zeit hätte, um ein Problem zu lösen, dann würde ich die ersten 50 Minuten darauf verwenden, es gut zu beschreiben“. Oh, stellen wir jetzt fest: die wahre Kunst besteht vermutlich darin, Probleme überhaupt erst einmal zu erkennen. Aber dafür müssen wir sie auch so nennen!